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Rede zur Eröffnung von Susanne Greinke

 Anja Billing: "Höhere Ordnung"

 Galerie Budissin Kunstverein Bautzen, 28.2.2020

 

Liebe Gäste, liebe Anja Billing, liebe Tanja Böhme, sehr geehrte Damen und Herren,

 

„Höhere Ordnung“ hat die Berliner Malerin Anja Billing die Ausstellung genannt. Der Titel ist von einem der hier ausgestellten Bilder entlehnt. Darauf sehen wir einen Arm. Aus Flecken und lockeren Pinselstrichen geformt und leicht angewinkelt, weist er von rechts kommend bis zur Mittelachse des Bildes und uns Betrachter*innen entgegen. Die ausgestreckten Finger der Hand enden dort, wo der goldene Schnitt, die obere und untere Bildhälfte teilt. Diese Haltung der Finger entspricht der Geste des Segnens, wie sie in der Geschichte der christlichen Kunst vielfach zu sehen ist. Hinter dem Arm, etwa auf Höhe des nur angedeuteten Schulterbereichs ragt ein Stab, mit einer kleinen, flatternden Fahne in die obere Bildhälfte. Mehr eindeutige Figuration zeigt uns die Berliner Malerin Anja Billing in ihrem Bild „Höhere Ordnung“ nicht. Selbst Arm und Fahne konkurrieren mit den sie umgebenden Farbgebilden, als drohten sie im Unbestimmten zu versinken. Bei jedem Blick scheinen sich die Bildelemente zu neuen Formationen zusammenzuziehen. Die Bewegtheit der Formen resultiert aus ihrer Beschaffenheit, der Materialität der Farbsubstanz. Es sind Zeugnisse des Malaktes aus dem sie hervorgegangen sind. Damit offenbart das Bild seine eigene Bildhaftigkeit. Wir sehen die Pinselspuren, das Stakkato von Flecken, kurzen Strichen und Tupfen. Sie werden von ruhigeren Flächen umfangen, die das Geschehen gleichsam zentrieren. Aus der klaren Komposition und dem Hervorbrechen überbordender Farbfülle entsteht ein vibrierender Bildraum, dessen Dynamik sich aus der suggerierten Veränderlichkeit ergibt.

Bei dieser Art der Malerei geht es auch um die physische Präsenz, die Kraft, die sich in das Bild einschreibt, den Prozess voran treibt und das kalkulierte Vorgehen immer wieder vergessen lässt. Die amerikanischen abstrakten Expressionisten haben die Selbsttätigkeit der Malerei bis an die Grenzen getrieben. In dieser Selbstvergessenheit überträgt sich der Subjektstatus vollständig auf das Bild. Doch so weit geht Anja Billing nicht. Der subjektive Ausdruck um seiner selbst willen, würde ihr nicht genügen. Dafür ist ihr das Bild als anthropologische Grundkonstante mit seinen kulturhistorischen und mythischen Dimensionen zu bedeutsam. Es geht ihr um die Abbildung der Welt, die in ihrer ganzen Komplexität auch das Individuum durchspült. Daher sehen wir den Arm mit Fahne. Mit diesem Fragment, das wie eine Spolie aus dem Farbgetriebe ragt, schlägt die Künstlerin einen weiten Bogen in die Geschichte der europäischen Malerei zu Giotto di Bodones „Noli mi tangere“ aus dem Freskenzyklus in der Arenakapelle in Padua. Die Geste der Hand und die Fahne sind der Figur des Christus entlehnt, der Maria Magdalena segnend zurückweist, um sich, je nach Bibelauslegung des „Noli mi tangere“ der Berührung oder dem Festhalten zu entziehen. Im Nachbarbild, das Billing mit dem Titel „Alte Szene“ versehen hat, wird das Zitierte noch erweitert. Es zeigt die vollständige Christusfigur zu ihren Füßen lagern zwei Gestalten.

Für unsere abendländische Kultur ist die Darstellung ein Bestandteil des kollektiven Bildgedächtnisses. Mit dem Zitat untersucht die Malerin die Kraft und Relevanz dieser Gesten und Bilder aus heutiger Perspektive und lässt dabei die Zeitebenen verschmelzen.

Im übertragenen Sinne zeigt sich dieser Prozess über jenes Vibrieren des Bildraumes von dem schon die Rede war oder auch (um eine andere Assoziation anzuführen) ein Gewebe, ein Gobelin vielleicht, bei dem Kett-und Schussfäden so ineinandergreifen, dass ihre Positionen (also Hinten und Vorn) permanent wechseln.

 

Doch noch einmal zurück zu Giotto. Seine Bildlösungen markieren einen Wandel in der Geschichte der Malerei. An der Schwelle vom Kult zur Kunst bricht Giotto mit der byzantinischen Malereitradition und ihren schematisierten Darstellungen von Figuren, indem er beginnt den Körper mittels Farbe räumlich zu modellieren, ihm die Illusion von Plastizität zu verleihen und ihn so gegenwärtig erscheinen zu lassen. Seine veränderte Bildauffassung fußt auch auf den neuen Erkenntnissen im Bereich der Optik jener Zeit. Sie werden die Grundlage für die später folgenden Konstruktionen der Zentralperspektive legen, deren Untersuchung die Künstlerin in einer Folge von Bildern mit Referenzen auf Albrecht Dürers „Underweysungen“ verhandelt. Dabei geht es um die malerische Konstruktion von Raum.

 

In dieser Ausstellung ist es das Bild „Early Sound“, dem die Beschäftigung mit Dürer zugrunde liegt. Die zwei Bildfiguren erinnern zudem an eine frühere Werkphase, in der sie kleine Gruppen von Philosophen als Wanderer zwischen den Welten und Zeiten durch kaum näher bestimmbare Außenräume oder erfundene Naturräume schickt.

Doch nicht nur die Malereigeschichte dient Anja Billing als Quelle für ihre Arbeiten. Auch fotografisches Material nimmt sie zum Anlass und Ausgangspunkt ihrer Malerei. Hier ist sie im Sinne Roland Barthes auf der Suche nach jenem „punctum“ in den Bildern, also den Momenten und Zufälligkeiten, die sie als Betrachterin treffen oder betreffen.

 

Mit der Fotografie kommt noch ein anderer Aspekt von Zeitlichkeit im Bild ins Spiel. Die Fotografie konserviert einen realen Moment. Die Malerei hingegen entsteht wie schon beschrieben in einem längeren Prozess und speichert den gesamten Zeitverlauf im Bild und macht ihn bezogen auf die uns umgebenden Arbeiten sichtbar. Beim Malen nach fotografischen Vorlagen treffen diese unterschiedlichen Prinzipien des Umgehens mit der Zeit ebenso aufeinander, wie die Zeit aus der das fotografische Arbeitsmaterial stammt auf jene der Bildentstehung trifft. Daraus entstehen Diskontinuitäten im Zeit-Raum-Gefüge, die bildnerische Konsequenzen haben.

 

In dieser Ausstellung ist es das Bild „Salon Proust“, das auf der Fotografie des gleichnamigen Salons in einem Pariser Hotel basiert. Billing hatte das Foto zufällig in einer Zeitung entdeckt. Nicht nur die Aufnahme, die besondere Farbigkeit des Interieurs, auch Prousts Werk selbst, das sie schon vor einiger Zeit gelesen hatte, waren Anlass, einen eignen Salon Proust zu schaffen. Prousts Romanzyklus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ liegt die Idee zugrunde, dass die Realität durch ihre genaue Beschreibung gleichsam aufgelöst wird, um sie gleichzeitig im Prozess der Erinnerung zurückzugewinnen.

 

Das Motiv der Aneignung des Realen durch einen künstlerischen Prozess und das Verhältnis des Realen zur Erinnerung hat viel mit dem künstlerischen Werk Anja Billings zu tun. Malerei und Fotografie sind Medien der Erinnerung. Diese ist nach Prousts erst in ihrer Manifestation fassbar. Auch in diesem Sinne dient Malerei als Form der Erkenntnis, die über das eigentliche Bild hinausweist und so Teil einer höheren Ordnung wird. Auf dieser Ebene ist jede Zeitlichkeit aufgehoben und der Kreis schließt sich.

Vielen Dank!

 

Matthias Flügge, 2007 (in Katalogheft zur Ausstellung "m.y.a.", Guardini Galerie, Berlin)

 

Anja Billing malt Bilder, auf denen etwas zu sehen ist oder etwas geschieht. Daran arbeiten zur Zeit wieder viele Maler und man sagt, das habe damit zu tun, dass die Bildwelten der Medien, die uns in ihrer bedrückenden Eindeutigkeit umgeben, gleichsam nach einer Befreiung im Künstlerischen drängen. 

Deshalb hätten die Maler über die Form- und Farbstrukturen des Digitalen wieder Verbindung zum Mythos und zu den erfundenen Realitäten aufgenommen, die hinter ihm stehen. 

Doch die Malerei, in diesem Blickwinkel betrachtet, wäre ein ärmliches Surrogat. Und manchmal ist sie das auch, zuweilen auch sehr erfolgreich. Immerhin braucht der Markt gegenständlich handelbare Werke, Ideen allein machen nicht satt. Solche Engführungen des Denkens über Bilder zeugen allerdings vom Vergessen anthropologischer Konstanten. 

Daß die Malerei wieder als eine autonome künstlerische Ausdrucksform gesehen wird, hängt wohl eher damit zusammen, daß die Menschen seit jeher Bilder sehen wollen, die sie mit sich selbst und ihrer Geschichte in einen Zusammenhang setzen können und daß die Kunst, die lange Zeit zur sozialen Praxis verallgemeinert wurde, wieder in hohem Maße als individuelles Phänomen wahrgenommen wird. Atavismen des Bildnerischen drängen herauf und mit ihnen lange verloren geglaubte Genie- und Kultbilder der Vormoderne. 

Anja Billing weiß das alles genau, sie zitiert die Vorstellungsbilder der piktorialen Wende und lotet sie in Variationen aus. Sie steht im Zentrum der Wiederkehr des Malerischen, die von ihrer Generation vorangebracht wurde. 

Aber das Besondere ist, daß sie diese Zeit- und Kunstsituation zu ihrem eigenen Thema gemacht hat: die Erinnerung, ihr zyklisches Verschwinden und Erscheinen, die Nähe und die Ferne von Zeit und Leben. Sie malt Bilder aus der Distanz, Bilder in Bildern, Bilder von Bildern, die wir unauslöschlich in uns bewahren, höchst subtile Archaismen, Häuser, Hütten, Höhlen, in sich versunkene Figuren, Feuer, Tänze, Prozessionen, Landschaften, Gewächse, Meere und Himmel. Sie überbrücken die Zeit, kommen von weither und sind ganz gegenwärtig. Mya - million years ago - die Maßeinheit der Erdzeitalter, ist in ihrer Unermesslichkeit eine relative Größe. Das bricht die offenbare Ironie des Ausstellungstitels. Denn dieses Maß bestimmt sich an der Gegenwart, ist eine Zeitmessung, die nichts Absolutes hat, sondern von heute aus gültig ist, von jedem Heute - auch wenn der einzelne Tag in den Äonen scheinbar nicht zählt. Doch die Bilder sprechen eine andere Sprache, sie sind da, sie sind im Jetzt. Die ersten Häuser können die letzten sein, die Landschaften zeigen aus der Zeit gefallene Zonen, die Philosophen sind Homunkuli des Wissens in fremder Natur. Sie haben die Welt verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu bewohnen. 

Anja Billings Bilder gewinnen ihre Kraft aus ihrer koloristischen Unbedingtheit. Sie malt in den Spätzeitfarben symbolistischer Ästhetik die säkulare Endlichkeit. Und das mit äußerster Finesse. Zuweilen alchimistisch aufeinander reagierend, organisch verschlungen, zeichenhaft, komplementär kontrastiert, dann wieder auf großen, vibrierenden Flächen das Motiv zum Vorschein bringend in fast schon ornamentaler Struktur. Zuletzt ist die Erzählung dieser Bilder allein ein Werk der Farben. Ganz und gar Malerei, in der das Auge den Gedanken zeugt.

Unberechenbarer Überschuss, Katrin Bettina Müller, 2003

 

Im Moment des Schocks, so sagt man, zieht das Leben wie ein Film vorüber. Für einige Augenblicke bricht dann die Zeit auseinander und innere und äußere Wahrnehmung laufen in verschiedenen Geschwindigkeiten nebeneinander her. 

Die Bilder, die von außen kommen, verlangsamen sich, im Inneren setzt dagegen eine Beschleunigung an und drängt das Leben zusammen. Der Rhythmus ist asynchron geworden.

In den Bildern von Anja Billing finden solche Momente der Verschiebung allein in der Farbe statt. Etwas bewegt sich rasend schnell, in formverschleifenden Schlingen und Kringeln pulst Energie; und etwas zweites dagegen dehnt sich sehr langsam aus, fließt träge dahin, fast bis zum Stillstand. Abstrakt in dem Sinne, dass sie nichts Gegenständliches darstellen und keinen Referenten außerhalb der Malerei bezeichnen, sind meistens beide Ebenen. Aber dennoch verhalten sie sich zueinander wie Motiv und Grund, Figur und Raum.

Schwere und Leichtigkeit, offene und besetzte Zonen, Geschwindigkeit und Trägheit, Beschleunigung und Verlangsamung, Dichte und Durchlässigkeit, fließende Bänder und schwebende Strukturen, nach vorne kommen und zurücktreten, Druck machen und locker lassen, aufsteigen und fallen, verwirrt werden und ordnen, etwas überblicken können und von etwas geblendet werden, sich in verschwenderischem Überfluss aalen und mit etwas knapp gehalten werden: All dies sind kontrastierende Zustände und Befindlichkeiten, von denen die Bilder von Anja Billing widerhallen. Ihre Herkunft aber speist sich aus doppelten Quellen.

Denn zum einen stammen diese Empfindungen und Bewegungen aus der Welt der körperlichen Erfahrungen und des sozialen Verhaltens; mit ihnen ließe sich beschreiben, wie man einen Raum betritt, einen Tag anfängt, in einer Stadt ankommt, einer Gruppe begegnet, Position bezieht, Beziehungen eingeht. 

Zum anderen sind es Prozesse, die sich im Akt des Malens selbst entwickeln. Sie sind nicht auf einen Plan zurückzuführen, der dem Bild vorausgegangen wäre, wie etwa das Vorhaben für dieses oder jenes Gefühl einen Ausdruck zu suchen. 

Aber im Moment ihrer Entstehung auf dem Bildgrund docken durch die Augen und Hände der Malerin Erinnerungen daran an, die in ihrem Gedächtnis und Körper gespeichert sind. 

Die Bilder brauchen Zeit. Sie brauchen Zeit für ihre Entstehung, das ist klar, aber vor allem auch Zeit, um gesehen zu werden; um den Augen einen Weg über die Fläche zu bahnen, um Verhältnisse wahrzunehmen, um in die Tiefe zu dringen und wieder aufzutauchen, um zwischen den Bildern Beziehungen zu finden, um im Vergleich die verschiedenen Spannungen, Temperaturen, Intensitäten zu spüren. Denn erst im Sehen selbst stellt sich allmählich das Vermögen her, ihre Differenzierungen zu erkennen...."

 

 

Gefilde des Dahinterliegenden (Auszug aus Katalogtext)

Christoph Tannert, 2003

 

 

Anja Billings Bilder als "kulturelle Archive" zu bezeichnen, wäre übertrieben, nichtsdestotrotz sind sie mit den aktuellen Diskursen über zeitgenössische Ästhetik und Stil so verschaltet, dass man ihnen ihr Speicherpotential ansieht. Nicht im Sinne von Narration, aber doch zu identifizieren als Gehäuse für die andauernden Auseinandersetzungen über den Selbstzweck von Farbe und Form in der Mediengesellschaft. Diese Bildgehäuse verorten sich im Streit um die Bilder nach dem angeblich letzten Bild wie Steine des Anstoßes einer mémoire involontaire, als vielfältig aussagende Impulsgeber. Die übliche Entgegensetzung - "Moderne gegen Realismus" (oder schlimmer noch Abstraktion gegen Konkretion) - verfehlt, so man die Werke von Anja Billing zu Rate zieht, den springenden Punkt. Es geht nicht länger darum, Realismus im Bild als fiktionales Klein-Universum zu erzeugen, genausowenig um farbquietschende Benutzeroberflächen ohne Tiefgang. Die Übermacht einer Ästhetik als Gestaltung von Informationen für die Informationsgesellschaft rückt in allen Bereichen immer mehr in den Vordergrund. Deshalb zerfällt die traditionelle Arbeitsteilung zwischen Kunst und Wirklichkeit, wie sie im industriellen Zeitalter noch geherrscht hatte. Die Stellung der Kunst als aufmerksamkeitsheischende Produzentin von Wahrnehmungsangeboten ist nachträglich erschüttert. Anja Billing arbeitet in Kenntnis dieses objektiven Konkurrenzkampfes zur mediatisierten Umgebung. Gerade deshalb gelingen ihr Bilder, die wie aus Zeit, Flucht und den Unterbrechungen der Wahrnehmungsgeschwindigkeit gefilterte, höchst subjektive Orientierungssysteme aussehen. Diese Bilder wirken nicht über das Faktum der Aufmerkamkeitserregung und führen auch nicht zu Pupillenerweiterungen, weil sie den zweiten Blick zu gewinnen suchen und die sensorische Wirkung."...“ (Auszug)